Meinungsfreiheit ist vielleicht das am häufigsten missverstandene Konzept in Zeiten von Social-Media.
Dieser Post fragt dich: Wo ist deine Grenze?
1. Jede(r) sollte jederzeit alles denken dürfen! Wirkt wie eine Selbstverständlichkeit, ist es aber nicht. Ich sag das einerseits weil ich weiß, dass da draußen viele Menschen mit Angst- oder Zwangsgedanken sind. Denken ist nicht böse. Man denkt unglaublichen Müll wenn der Tag lang ist. Jeder wirklich jeder EINZELNE von uns. Wichtig ist nur diesen Müll als solchen zu erkennen, aber der Gedanke an sich ist nur ein Gedanke. Es ist aber auch keine Selbstverständlichkeit, dass Gedanken frei sind. Autokratische Staaten versuchen selbstverständlich Gedanken zu formen und freie Gedanken schon im Kindesalter unmöglich zu machen. Kranke Systeme wie das 3. Reich (oder heute Putins Z-Propaganda-Russland) werden nur durch indirekte Gedankenkontrolle a.k.a. härteste Propaganda möglich. Aber auch in eigentlich freien Staaten versuchen natürlich viele Seiten letztlich auch Gedanken in gewissem Rahmen zu kontrollieren. Auch hier ist jederzeit Vorsicht geboten.
2. Jede(r) sollte jederzeit alles sagen dürfen. Da wird es schon komplizierter. Ungefiltert jeglichen Müll von sich zu geben kann verletzend und schädlich sein, trotzdem muss ein liberaler Staat und eine bunte Gemeinschaft das größtenteils richtigerweise ertragen. Denn wer will denn jederzeit trennscharf und richtig für alle Themen bestimmen, was Müll und was Perle ist? Und zeigt sich das nicht häufig erst viel später? Es ist daher gut diese Meinungsfreiheit hochzuhalten. Allerdings lernen gerade schmerzhaft viele Aktivistinnen im Netz, dass sie natürlich auch ihre Grenzen hat. Hassrede, aber auch üble Nachrede und einfach mal behaupten, dass jemand schuldig wär – das ist schnell und überzeugend getweetet, kann aber schmerzhafte Folgen vorm Gericht haben und richtig teuer werden, egal wie „gut man es gemeint hat“.
3. Jede(r) darf jederzeit auf jeder Plattform alles sagen. Jetzt sind wir bei der Muskschen Auslegung von Meinungsfreiheit angekommen. Der liegt zu Grunde, dass es irgendwie eine Art ANRECHT gäbe auf jeder Plattform alles zu sagen. Stellen wir uns das mal in der realen statt der Internet-Welt vor: Du machst einen Kongress für Klimaforschung. Ein Klimaschwurbler kommt, stürmt deine Plattform und erzählt ungefragt von der Bühne allen, dass der Klimawandel gar nicht existiert, alle Klimaforscher totale Idioten sind und er hätte ein geheimes Video auf Youtube entdeckt, das das alles belegt. NATÜRLICH würde man so einen Idioten nicht reden lassen, auch und gerade weil es für niemanden einen Mehrwert bietet. Es ist ja in 99,9999 % der Fälle nichts Kluges zu erwarten. Aber Elon Musk würde trotzdem sagen: „Lass ihn reden, denn du hast eine öffentliche Plattform geschaffen, also was fällt dir ein zu bestimmen, wer reden darf oder nicht?!“
Dieses Beispiel zeigt auch sehr schön, was für Verschiebungen Social Media bewirkt hat. Denn auch eine Gesellschaft mit Meinungsfreiheit gewichtet Meinungen niemals gleich. Sie hat Institutionen und soziales Geflecht und innerhalb dieser bestimmt sie (möglichst) nach Kompetenz, Sympathie, Glaubwürdigkeit aber manchmal auch nach Vitamin B oder Geld, wer ernst genommen wird und die Plattform bekommt seine Meinung an viele Menschen zu verbreiten. Diese Institutionen funktionieren also als Meinungsfilter, die das System damit letztlich auch stabil halten. Das übrigens im Guten und Schlechten. Denn wie „Vitamin B“ und „Geld“ schon andeutet, einige haben die Meinungsmacht aus den falschen Gründen und Stabilität ist nicht per se gut.
Social Media aber greift dieses System komplett an und ersetzt soziale Strukturen durch Algorithmen. Algorithmen, die noch dazu Emotionalisierung bevorzugen. Und Emotionalisierung findet sich vor allem in Populismus. Was wiederum zu Spaltung führen kann. Warum das? Nun, Emotionen sind unser Clickbait. Und Social Media Plattformen wollen, dass wir bleiben, damit sie uns Werbung zeigen können. Social Media ist also wenn man so will nicht selten eigentlich eher die Auflösung des „Social“. Das ist „Disruptiv“, wie das immer so schön vom Silicon Valley euphemetisiert wird. Aber eigentlich ist es nicht selten „destruktiv“ weil sich kaum wer Gedanken macht, was danach kommt. Musk und Bezos stehen sehr plakativ für diesen Willen alles zu schleifen, um dann etwas Neues aufzubauen, das angeblich „freier“ ist aber eigentlich nur kleinteilige soziale Kontrolle und staatliche Obrigkeit durch maschinelle Kontrolle und privatwirtschaftliche Abhängigkeit ersetzt. Denn natürlich „filtern“ Social Media Plattformen auch Meinungen. Nur eben nach von außen nicht einsehbaren Kriterien und geheimen Algorithmen. So bestimmen sie fast ohne Kontrolle über Wohl und Weh unsere Demokratien. Und das eben nicht selten mit einem destruktiven Mindset dahinter.
Wenn jetzt Staat und Gesellschaft darauf drängen wenigstens die schlimmsten Hetzer, die leider häufig gerade die größte Verbreitung erfahren (Siehe Donald Trump) stummzuschalten, durchkreuzen sie damit die disruptiven nein destruktiven Pläne von Musk und co. Es ist also gar nicht so sehr ein Kampf um Meinungsfreiheit. Es ist eher ein Kampf darum, wer Meinung beschneiden darf. Denn wer das tut, hat Macht. Und Musk ist bekannt dafür, dass er gnadenlos jeden stummschaltet, der ihn kritisiert, was erst einmal seine freie Entscheidung ist, aber auch etwas irritierend wirkt. Er bestimmt für sich, dass er das nicht hören will, will aber den Rest der Welt zwingen, alles hören zu müssen: Siehe Donald Trump.
Kommen wir nochmal zurück zum Klimakongress. Der Klimawandel ist so eindeutig bewiesen und menschengemacht wie sonst fast nichts in der Menschheitsgeschichte. Die musksche Meinungsfreiheit ohne Faktchecking oder irgendwelche Grenzen führt hier nur zu problematischen Reibungsverlusten im Meinungskampf. Wir sollten uns vermutlich schon lange nicht mehr fragen, ob es den Klimawandel gibt, sondern was wir dagegen möglichst schnell tun können. Aber statt dessen wird in einem schlecht gewichteten Meinungskrieg ständig das Fundament durch Schwurbler unterspült, während der Rest verzweifelt versucht ein Haus des sicheren Wissens zu bauen.
Wären dieselben Schwurbler in analoger Meinungsfreiheit auf den Markt gelaufen und hätten gerufen: „Klimawandel ist nur ein Hoax! Great Reset!“ man hätte über sie gelacht und die Leute wären kopfschüttelnd weiter gegangen – aber durch Social-Media-Meinungsfreiheit haben sie plötzlich erstaunliche Meinungsmacht. Und man sollte sich fragen: Wollen wir das eigentlich? Müssen wir nicht lernen mit Social Media neue Regeln zu finden, damit wir unsere Gesellschaften erhalten können?
4. Der äußerste Kreis ist natürlich ein Widerspruch in sich, der lustigerweise von vielen nicht einmal bemerkt willst. Wenn du alles sagen darfst, aber dich niemand dafür kritisieren darf – dann gilt Meinungsfreiheit nur für dich, aber nicht für die Anderen, und das ist keine Meinungsfreiheit sondern Meinungsdiktatur.
Und wenn ihr jetzt denkt: Ja alles schön und gut aber „Wollt ihr die totale Meinungsfreiheit?“ ist das nicht ein übler und total unpassender Nazivergleich.
Ja klar. Deine Meinung. Aber wir haben Meinungsfreiheit.