Bis vor einigen Jahren hatte Empörung noch etwas unangenehm exklusives. Damit man in seiner Empörung ernstgenommen wurde, musste die Empörung zumindest ansatzweise auf tatsächlichen Fakten oder Kausalketten fußen. Es ist daher als großer Fortschritt in der Verfügbarmachung der Empörungskultur für Jedermann, Jederfrau und Jederdivers zu betrachten, dass diese unnötigen Fesseln der Realität in der postfaktischen Empörung komplett gelöst werden konnten.

So kann man sich heute, von Millionen beklatscht, völlig ernsthaft darüber empören, dass einem „DIE GRÜNEN“ das Auto, bzw. natürlich insbesondere den SAUBEREN DIESEL, wegnehmen wollen. Nun sind die Grünen der Neuzeit eine, angesichts der bereits im Vorgarten wütenden Klimakrise, und komplett verstopften Städten in der aufziehenden Post-Corona Stauapokalypse, merkwürdig lauschige „sollten-wir-echt-mal-drüber-reden“-Partei. Aber das hindert die postfaktische Empörung natürlich nicht daran sie als radikale Ökonazis an die Wand zu malen und als „Verhinderungspartei“ zu brandmarken. Und so den kompletten Diskurs wie beim Preismarketing in eine postfaktische Richtung zu verschieben. Denn wenn die Grünen schon radikal sind, wäre ja alles was wirklich ernsthaft konsequent ökologische Politik betreiben wollte, postfaktisch kompletter Wahnsinn. Obwohl es faktisch angesichts der drängenden Probleme vor allem folgerichtig wäre. Während also CDU / CSU / AfD und co. Erneuerbare Energien, Verkehrswende, Digitalsteuer, Transparenzinitiativen, Datenschutz und Digitalisierung*, Genossenschaften, Anwohnerinitiativen, Radfahren und noch vieles mehr ganz faktisch und nachweisbar verhindern, wollen postfaktisch die Grünen, die Linken, die „Progressiven“ angeblich alles verhindern und DIR DEIN AUTO WEGNEHMEN.

Und dann grölt schon der Mob: „DIE GROßSTÄDER WIEDER!“ – „WIR AUF DEM LAND BRAUCHEN AUTOS“ – „WIE SOLL JETZT DER HANDWERKER MEIER IN DIE STADT?“ – „POLIZEI OHNE AUTOS, WIE SOLL DAS GEHEN?“ – „UND DIE BEHINDERTE TANTE ERNA? DARF JETZT ZU FUß GEHEN ODER WAS?

Das witzige daran: Keine, der Aussagen aus dieser selbstgerechten Empörung fußt auf irgendeiner faktischen Realität. Autos sollen angesichts des begrenzten Raumes in den STÄDTEN zurückgedrängt werden und NICHT auf dem LAND. Wenn weniger Menschen Vergnügungstouren mit dem Auto in der oder in die Stadt machen ist tatsächlich mehr Platz für Handwerker Meier und Tante Erna. Denn auch denen will natürlich niemand die Autofahrt verbieten. Lieferverkehr ist bei fast allen Maßnahmen ausgenommen. Und Polizei und Feuerwehr kommen auch besser durch, wenn nicht gerade ein dicker SUV, mit überfordertem Vorstädter drin, die Straße blockiert.

Aber das ist alles egal in Zeiten der postfaktischen Empörung. Du kannst sicher sein, dass millionenfach in deinen Chor der Empörung eingestimmt wird. Nicht weil du recht hast, aber weil die Anderen WOLLEN, dass du recht hast, damit sie sich nicht selbst hinterfragen müssen.

Und diese Empörungsunkultur wird dann wiederum geschickt von Think-Tanks aller Art genutzt. Übrigens in allen Richtungen. So gibt es eine Gruppe, die Streaming zum neuen Fliegen erklären möchte. Streaming ist tatsächlich für einen Großteil der CO2-Emissionen des Internets verantwortlich und ein stetig steigender Posten. Aber die Zahlen wurden von dieser Gruppe weil sie was für den Klimaschutz tun wollte (oder auch einfach nur geil auf Aufmerksamkeit war) soweit aufgeblasen, dass teilweise locker das zweihundertfache der Realität angenommen wurde und Netflix angesichts der in der postfaktischen Realität anfallenden Stromkosten längst pleite sein müsste. Nun sind Netflix und co. verständlicherweise an effizienten Servern interessiert und das Umweltbundesamt kam denn auch zu komplett anderen Ergebnissen. Dabei hatten sich Dieter Nuhr und co. schon so gefreut über ihre verlogenen Fridays-For-Future Gören, die mit ihrem Handystreaming angeblich den Planeten ruinieren. Nur müsste man in realistischen Zahlen 13 Stunden lang Videos von Greta auf dem Handy in höchster HD-Qualität unterwegs über das mobile Netz streamen, um soviel CO2 zu emittieren wie der SUV vom empörten Onkel auf einem Kilometer. Und ich weiß ja nicht wie es euch so geht, aber bei meinem Smartphone macht spätestens nach 1 Stunde Streaming der Akku schlapp und nach 2-3 Stunden sind die Daten alle. Der SUV ist dann knapp über 200 Meter gefahren. Damit kommt man nicht mal zum nächsten Zigarettenautomaten, um nach der ganzen geilen Empörung wieder runterzukommen.
Aber diese anstrengenden und öden Zahlen von den Langweilern des Umweltbundesamts haben keine Chance gegen die postfaktischen Zahlen des Öko-Empörungs-Thinktanks, die sich längst in den Köpfen eingenistet haben. Denn wahr ist nicht was realistisch ist, wahr ist worüber sich schön empören lässt. Und wenn man das einmal im Hinterkopf behält, ist das Verschwörungsschwurbeln, also das Empören über Dinge, die nicht mal der linke oder der rechte Mainstream falsch versteht, gar nicht mehr so weit entfernt. Eigentlich ist es nur eine logische Fortenwicklung des „Ich mach mir die Welt so, wie sie mir nicht gefällt“ damit ich mich maximal EMPÖREN kann. Denn postfaktisches Empören ist so eine wunderbare inklusive und selbstgerechte Emotion. Jede(r) kann teilhaben und leise flüstert sie: „Komm zu mir und du bist nie wieder an irgendwas mitschuldig! Nie wieder verantwortlich sein, immer sind es die anderen, Daten, Fakten, Kausalitäten alles egal – klingt das nicht verlockend?“ Die „Mitte“ der Gesellschaft ist also allzuhäufig gar nicht so weit von den Verschwörern entfernt, was auch erklärt warum die absurden Verschwörungsmythen so erstaunlich anschlussfähig sind.

Noch ein schönes Beispiel für scheiternde postfaktische Kausalketten findet man in der Landwirtschaft. Hier hat sich über Jahrzehnte eine harte Front zwischen Umweltschützern und Bauern gebildet. Die faktisch betrachtet keinen Sinn machen dürfte. So stilisieren sich Bauern als die verfolgte Unschuld vom Land, die als Umwelt- und Landschaftsschützer doch eigentlich den Beifall der Umweltschützer bekommen müssten. Und gleichzeitig haben sich die eigenen Bauernverbände dem Mephistopheles der industriellen Landwirtschaft angedient, und „zwei Herzen schlagen ach in ihrer Brust“ aber immer wenn es drauf ankommt verraten sie all die kleinen Landwirte und sorgen zusammen mit der „Bauernpartei“ CDU dafür, dass heute bäuerliches Familienleben kaum mehr möglich ist und Landwirtschaft immer mehr Industrie wird. Der eigentlich Feind bäuerlicher Landwirtschaft waren zu keinem Zeitpunkt Grüne oder Umweltschützer, die immer und zu jeder Zeit an einer kleinräumigen, kleinbäuerlichen Landwirtschaft mit hohem Arbeitsaufwand interessiert waren. Die Feinde bäuerlichen Lebens sind die großen Industriebetriebe, Chemiekonzerne, gierige Großbauern, die Union, eine völlig verfehlt Subventionspolitik der EU und die Billigheimerei der Discounter und der Verbraucher. So räumen die Landwirte unter Applaus ihrer falschen Freunde die Landschaft mit großräumigen Monokulturen aus und sind dann empört wenn man sie dafür kritisiert. Und bauen immer mehr Hass auf genau die Großstädter auf, die sie angeblich nicht achten würden, aber die ganz faktisch tatsächlich bereit sind mehr Geld für gute Lebensmittel auszugeben und NICHT zum Discounter gehen. Und dann gründen verzweifelte Großstädter Lebensmittelkooperativen und graben am Wochenende selber im Boden, weil sie wissen wollen was sie da essen, während der letzte bäuerliche Landwirt der Umgebung Nacht für Nacht schlecht schläft, weil die Preise für seine mühsam erschufteten Lebensmittel hinten- und vorne nicht reichen. Aber all sein Wut und seine Empörung ergießt sich auf die „verlogenen“ Umweltschützer aus der Großstadt. Dabei müsste er eigentlich seinen Bauernpräsidenten zum Teufel jagen und den Discounter abfackeln, um nicht in billiger Milch zu ertrinken.

Aber auch für alle, die keinen Diesel verteidigen müssen oder in der Landwirtschaft beschäftigt sind, hat die postfaktische Empörung ein Angebot. Denn es gilt jederzeit: Hast du nix zum empören, empör dich doch über Worte!
Hat der am Anfang etwa „Jederdivers“ geschrieben? Was ist denn das schon wieder für ein abendlandzersetzender Genderwahnsinn? Und von der anderen Seite: Hat der etwa einfach so „Frau“ oder „Mann“ geschrieben? Das gibts doch so gar nicht mehr! Und wenn schon dann cis-Mann, aber dann wären wiederum die anderen nicht genannt und im Text sind gar keine weiblichen Endungen. Das lässt ja tief blicken, wobei weibliche Endungen ja schon wieder von gestern sind, besser wäre ja eigentlich ein unbestimmter Artikel, das Neutrum und dann sollte man auch über, und eigentlich und was man noch erwähnen und bei divers sind denn da, und sollte man nicht explizit….

Denn man hofft ja, dass in all diesem postfaktischen Empörungswahnsinn wenigstens die ominöse „Linken“ oder die „Progressiven“ mit realistischen Zahlen und Kausalketten agieren, muss man leider sagen: Das tun einige auch ab- und an. Aber viele sind einfach so beschäftigt im Kampf um Worte, dass für Zahlen und Kausalitäten einfach keine Zeit mehr bleibt. Dabei bräuchten wir dringend vor allem weniger Kulturkampf und mehr Kampf für Faktisches. Von beiden Seiten. Ob und konservativ oder progressiv. Sinnvolle Diskussionen sind wenig von dem exakt richtigen Wort als vielmehr von der Einigung auf richtigen Dimensionen und Kausalketten abhängig. Aber das ist halt mühsam und da muss man im Kleinklein recherchieren, statt einfach mal ne Meinung rauszuhauen und sich schön postfaktisch zu empören.

Und ach dann googelt man da so und das ist jetzt ja auch so ein bisschen langwierig und sag mal hat da etwa jemand was zu Autos geschrieben? Das ist ja wohl EMPÖÖÖÖÖREND!
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Und damit Euch nun viel Spaß beim Empören über den Blödsinn den der Captain da geschrieben hat! 😉
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Zum Streaming hier mal die realistischen Zahlen und Quellen vom Umweltbundesamt und die detaillierte Auseinandersetzung der IEA mit den „Kampfzahlen“ eines Thinktanks. Übrigens hat dabei selbst die IEA die CO2-Emissionen noch zu hoch angesetzt und so kommen die Kampfzahlen des Thinktanks fast noch gut weg.

https://www.umweltbundesamt.de/presse/pressemitteilungen/video-streaming-art-der-datenuebertragung
https://www.iea.org/commentaries/the-carbon-footprint-of-streaming-video-fact-checking-the-headlines